Wie denkst Du Raum?

von Stefan Becker

I. Raum – Verstehen

Der Raum, der uns umgibt, ist der Raum, in dem wir uns lernen zu begreifen.

=> Sozialisation als Ausgangspunkt

  • Sobald ein Mensch auf die Welt kommt, wird er mit Raum konfrontiert – und assimiliert sich in diesem.
  • Gabriel de Tarde wirft in seinem Buch „Gesetze der Nachahmung“ die Perspektive auf, dass vor allem das kindliche Lernen aus Wiederholung und Nachahmung und das nachfolgende Denken, Verhalten und Handeln als „Summe aller Teile“ betrachtet werden kann, um es vereinfacht zu sagen.
  • Wir begehen den Raum und lernen die jeweiligen Verhaltensweisen und Regeln kennen, die in ihm verhaftet sind:

Wohnung/Gebäude => Zimmerhoheiten, Betretungsrechte, Nutzungsrechte, Verwendungszwecke, Genussrechte, Zeitregularien, Freiheitsrechte, Klagerechte

Verkehrsregeln => Hierarchien von Fahrzeugen, Wegerechte, Straßenschilder

Transitorte => Symboliken, Zweckmäßigkeiten, Pflichte, Rechte

Neben der Nachahmung werden wir auch geprägt durch die Erklärung, welche sich uns durch Sprache und Schrift zuwendet. Diese lernen wir und lernen wir zu benutzen.

=> Raumtheorien als Ausgangspunkt

  • Wir verstehen die Welt so, wie wir sie kennengelernt haben
  • Durch die Wissenschaft, die Phänomene generalisiert, erklärt, interpretiert und prognostiziert

Dazu ein paar Ansätze:

  • Raum als Behälter /Aristoteles / Mathematik
  • Raum der unendlichen Ausdehnung / Physik
  • Raum des Sozialen / Interaktionen / Sozialwissenschaft
  • usw.: Sprachraum, Wirtschaftsraum, Rechtsraum (Menschenrechte), Nation, Stadt, Stadtteil, Nachbarschaft

Heißt:

  • Eigenschaften eines Ortes (abgegrenzter oder punktueller Raum) werden definiert und mit Eigenschaften belegt

=> Voraussetzung  für die Konstruktion von Rollenverhalten, Ritualen, Traditionen, Identitäten und Stereotypen

Dadurch bestimmt sich unser Verhalten und auch unser Denken; durch Kulturtechniken des Raumverhaltens.

  • Verkehr / Verkehrsschule / Karten / Bordsteine/Straßen/Öffentlicher Raum
  • Zeiten/ Züge / Autos / Handlungen in der Stadt / welche Orte für welche Funktionen
  • Grundsatz dafür: Die Europäische Stadt

Diese wiederum inspiriert für kulturwissenschaftliche Theorien:

Niklas Luhmann // Räume beherbergen Soziale Systeme, deren Grundlage die Geschlossenheit und Autopoiesis ist und die lediglich durch strukturelle Kopplung über ihre Grenzen hinweg mit anderen Sozialen Systemen verbunden sind

Virilio // Infrastrukturen sind determiniert von Krieg und Geschwindigkeit

Michel Foucault // Die Beherrschung des Raumes durch Kulturtechniken wie Bild/Schrift/Zahl führt deren eindeutige Verwendung, zu Heterotopien

(Von Leben lassen und sterben machen => Leben machen und sterben lassen)

Henri Lefebvre // Räume werden produziert, und zwar mit konkreten Anliegen einer Verwendung

Deleuze/Guattari // Urbane Räume befinden sich unter der Hoheit von Staatsaparat und sind dem Raster / zwischen dem Glatten und dem Gekerbten

=> Weitere Begriffe: Räume des Wissens, Räume der Macht, Wissen und Labor, Experimentalräume, Ereignisräume, Nomadische Räume usw.

=> Forschungen in Rio de Janeiro

II. Raum hinterfragen

Alle diese Theorien eint etwas, und zwar ihr Anspruch auf Allgemeingültigkeit:

  • der Raum, in dem Du Dich bewegst und den Du erfährst, ist in den Theorien enthalten
  • Folge: Entweder Du bestätigst die Theorie und den Raum ODER
  • Die Theorie ist falsch!
  • Der Raum ist falsch! Heißt: Deine Raumerfahrung ist falsch!

Lieber eine eigene Theorie bauen als eine andere wiederlegen!

Denn: Wahrheit ist relational!

Was passiert: Der Raum ist relational, es gibt keinen absoluten Raum, es gibt kein absolutes Raumerlebnis.

Erleben ist immer Ereignis, folglich ist eine Raumerfahrung immer eine momenthafte Erfahrung, eine Singularität. Wie jeder Moment der Wahrnehmung, wie jeder Moment des Daseins.

Daraus folgt:

  1. Raum ist eine Imagination, und zwar eine, die jeweils an das Individuum gekoppelt ist (wie siehst Du)
  • Raum ist gebunden an Relationen, also ein Raum der Konstellation, die das jeweilige Individuum feststellt und benennt. (was siehst Du)
  • Dieses Wissen hängt wiederum ab von den Mythen/Narrativen/Wissen, das auf das Individuum zurückführt. (was suchst Du, will Du finden)

Ansatz ist hier die Phänomenologie. Die sich von Konventionen der Wissenschaften befreien will.

Mit folgendem Vorgehen:

=> Deskription als Methode

=> Apriorität der Phänomenologie (wissenschaftlicher Anspruch)

=> damit: Fundament für alle anderen Wissenschaften

Um was geht es?

Wissenschaftlicher Anspruch in der Wahrnehmung

=> nach Husserl: Gesetze der Logik (ich beobachte/erfahre etwas, daraus schließe ich); Schlussfolgerung, auf der Basis von Wissen

Annahme=>Beobachtung=>Konklusion

Beispiel:

Der Bewohner einer Favela ist ein Favelado. Pepe wohnt in einer Favela. Pepe ist ein Favelado.

Oder: Deleuze und Guattari beschreiben einen Raum abseits der Wissenschaften als nomadischen Raum. Die Favela befindet sich abseits der Wissenschaften. Die Favela ist nach Deleuze/Guattari ein nomadischer Raum.

=> Herausforderung Intentionalität: Wir sehen das, was wir (unbewusst) sehen wollen!

Um das zu hinterfragen – Fokus auf:

  • Sinne
  • Augen Sehen Imaginieren vs. Atmosphärisches Spüren     // Gernot Böhme

Zusammenführung in einem wissenschaftlichen Denken.

In einem Denken und wohl auch in einer Sprache?

1) Technische Medien als Normalisierung          // Symbole und Zeichen

=> Ich verstehe den Raum durch die Medien, die ich kenne.

=> Alles was wir über die Welt wissen, wissen wir durch die Medien (Luhmann)

=> Karten, Filme, Fotos

=> Kartendenken / Techniken der Zurechtfindung (Kompass)

2) Dazu die Ebene der Deskription

=> Aufschreibungen mit wissenschaftlichen Mitteln

=> Die Medien, durch die ich die Welt verstehe, nutze ich, um mich verständlich zu machen.

Führen zu:

  • Ich sehe, was ich bereits weiß.
  • Ich zeige, was ich sehe, was ich bereits weiß.

Mein Vorhaben ist es, etwas zu erläutern, was ich nicht weiß.

=> Forschungen in Angola

III. Raum bewusst denken // Raum gestalten

Das Phänomen der eigenen Erfahrung als Phänomen begreifen

  • Sich und seine Wahrnehmung samt Techniken selbst in den Mittelpunkt stellen

=> Kreation des Raumes durch Bewegen // Michel de Certeau

=> Kreation des Raumes durch Erleben // Poetik des Raumes

=> Kreation des Raumes durch Handeln // Bauen Wohnen Denken

Kulturtechniken des Raumdenkens

  • Urbane Feldforschungen // Phänomenologie

// Spaziergangswissenschaft

  • Techniken der Historiographie als Techniken der Realitätskonstruktion // Wissenschaft
  • Mnemotechniken für die individuelle Speicherung von (Raum)Narrativen

Individuell verschieden: Erinnerungstechniken/Aufschreibungen/Fotos/Filme

  • Einzelne Phänomene an den Perspektiven packen!

Und offen bearbeiten!

  • z.B. Seminare/Projekte // Film, Performance, Installation
  • Wissenschaft ist begrenzt durch Schrift und Bild, welche auch nur unter konkreten Konventionen Wissenschaft sein dürfen!!

Thema Grenzen:

Es gibt keinen Raum per se, sondern er wird definiert durch den, der wahrnimmt!

Eine Begrenzung des Raumes, von dem wir umgeben sind, ist:

einerseits:

die Markierung eines Territoriums (UR-Kulturtechnik)

anderseits:

ein Hindernis in der Ausdehnung unserer Bewegung und unseres Denkens.

Grenzen sind Ergebnisse von Konstrukten, aus denen wir Identität konstruieren.

Bewegen heißt immer Grenzen verschieben // Grenzen werden zu Konstrukten, die immer mit Macht und Deutungshoheit zu tun haben // sie zu hinterfragen, um zu lernen und um sich anpassungsfähig zu halten // In Bewegung bleiben!

Fotos (soweit nicht anders angegeben): Stefan Becker und Eva-Maria Hugo