Urbane Feldforschungen

Impuls für dieses Format kulturwissenschaftlicher Raumforschungen war das Ansinnen, junge Studierende der Sozial- und Medienwissenschaften in den öffentlichen Raum zu bewegen, raus aus den Räumen der Universität und den Akademien. Bereits über mehrere Semester wird dieses Format für Bachelor- und Masterstudierende des Instituts für Soziologie und des Instituts für Theater- und Medienwissenschaften der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg sowie für Bachelorstudierende der Sozialen Arbeit an der Technischen Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm angeboten, jeweils als Blockseminar im Umfang von 2 bis 4 Semesterwochenstunden. Natürlich ist das Format frei von Konventionen und kann sich spielerisch an jede Gegebenheit anpassen!

Der urbane Raum ist durchzogen von Infrastrukturen, die mit konkreten Funktionalismen, Mechanismen und Nutzungsweisen versehen sind. Der Mensch und seine Bedürfnisse sollen sich in ihnen verwirklicht finden, wie man aus der Perspektive der Stadtplanung behaupten könnte. In gemeinsamer Gedankenarbeit und offener Wahrnehmung soll in diesem Format der urbane Raum analysiert, erfahren und reflektiert werden, indem infrastrukturelle Konstellationen hinsichtlich globaler Paradigmen, lokaler Eigentümlichkeiten oder konkreter Differenzen untersucht werden.

Um dafür eine gemeinsame medien- und kulturwissenschaftlicher Perspektive zu gewinnen, richtet sich ein grundlegendes Augenmerk dieses Formats auf Theorien und Konzepte zu Genealogien von Architekturen und Infrastrukturen, ihren Imaginationsursprüngen, Entwurfstechniken und kulturtechnische Umsetzungen, als auch auf die singulären Verwendungspotentiale, ästhetischen Eigentümlichkeiten und räumlichen Repräsentationsfunktionen ihrer (medien)historischen und auch symbolischen Erscheinungsweise. Wie ist eine urbane Erscheinungsform entworfen, von wem und für wen? Was sind die Besonderheiten, was die Aufgaben? Wie gliedert sich diese in die Umgebung? Welche gesellschaftlichen Zwecke soll diese erfüllen und erfüllt sie tatsächlich, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Welche Mythen haften dieser an, welche Utopien?

Diverse Perspektiven von Urbanisten sollen uns dabei samt ihren Schriften und Gedanken begleiten, welche einer Vielfalt des wissenschaftlichen Denkens entsprungen sind; unter anderem solche von Georg Simmel, Martin Heidegger, Paul Virilio, Michel Foucault, Bernhard Siegert, Henri Lefebvre, Gilles Deleuze, Félix Guattari, Gernot Böhme und Heike Delitz.

Der Schwerpunkt des Seminars liegt in der ‚Überprüfung‘ dieser Konzepte und Perspektiven. Eine gemeinsame mindestens zweitägige Begehung von urbanen Konstellationen in konkret zu definierenden Stadtgebieten ist dafür vorgesehen, welche in signifikante Orte und Räume hineinführen soll. Perspektivisch werden wir uns dabei an der ‚Promenadologie‘ orientieren. In Deutschland als Spaziergangswissenschaft durch Lucius Burckhardt bekannt, in den USA durch Jane Jacobs salonfähig gemacht und als Konzept wie Geländeübung, Ortsbegehung, Exkursion oder Feldforschung akademisch verbreitet, bildet diese Art der urbanen Forschung die Möglichkeit, sich methodisch individuell unter verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven eine Stadt anzueignen. Einer der Ansätze ist es, die verschiedenen Orte des Urbanen in ihrer Qualität als ‚konkrete Utopien‘ beziehungsweise Heterotopien (nach Foucault) zu beforschen, um so nach Konzept, Funktion, Nutzung, Atmosphäre, Imagination und Vision fragen zu können.

Zudem soll es auch darum gehen zu analysieren, was einem bei einer Begehung begegnet, samt Reflektion; wie man sich selbst als ‚Fahrzeug‘ begreifen kann, ausgestattet mit den eigenen Sinnen und eigenem Bewusstsein, inmitten der Bewegungen all dieser lebenden und leblosen, fleischlichen, metallenen und steinernen Akteure. Diese Erfahrung der ‚Welt‘ und die ihr innewohnende Gesellschaft steht im Mittelpunkt des Formats und soll durch Feldforschungen untersucht werden. Methodisch orientiert sich dieses Vorgehen an der ‚Teilnehmende Beobachtung‘, die aus der Ethnologie stammt und schon seit längerem in vielen Teildisziplinen der Sozial- und Medienwissenschaften Anwendung findet.

Die einzelnen Feldforschungen wiederum sollen auf Vorschlägen und Ideen der TeilnehmerInnen basieren. Diese können sich unter anderem auf jedwede Orte und Infrastrukturen beziehen, die mit Gedanken einer urbanen Utopie oder einem Mythos behaftet sind, die konzeptionell mit Symbolen und Zeichen arbeiten, die mit Kulturtechniken der Öffnung/Schließung, der In- und Exklusion oder auch der Be- und Entschleunigung ausgestattet sind, kurz: allen Orten, denen eine gesellschaftliche Relevanz und eine phänomenologische ‚Reibungsfläche‘ innewohnt.

Für den Abschnitt der ‚Urbanen Feldforschungen‘, also die Begehungen der Stadt, wird es notwendig sein, eine ausreichende Fitness mitzubringen, viele Energien einzuplanen und für geeignetes Schuhwerk und taugliche Kleidung zu sorgen. In der Vorbereitung sollen möglichst in Arbeitsgruppen gemeinsam Theorien bearbeitet und Themenschwerpunkte ausgewählt werden. Diese sollen während der Begehung vorgestellt werden, orientiert an den Perspektiven der genutzten wissenschaftlichen Literatur und gerne unter Zuhilfenahme von verschiedenen Kulturtechniken wie Schrift, Photographie oder Film – in deren Form im besten Falle auch die vorher zu vereinbarende Projektdokumentation erstellt werden kann.

Literaturauswahl:

Martin Heidegger: ‚Bauen Wohnen Denken‘, in; Ders.: Gesamtausgabe. Abt. 1, Bd. 7: Vorträge und Aufsätze. Frankfurt am Main, 2000. S. 145-164.

Abrufbar unter: www.tu-cottbus.de/theoriederarchitektur/Lehrstuhl/deu/heidegger.pdf

Bernhard Siegert: ‚(Nicht) Am Ort. Zum Raster als Kulturtechnik‘, in; Thesis 49, 2003, 3. Heft: 9. Internationales Bauhaus-Kolloquium Weimar 2003: Medium Architektur. Zur Krise der Vermittlung, hg. v. Gerd Zimmermann, Bd. 1: Plenarvorträge. S. 92-104.

Abrufbar unter: https://e-pub.uni-weimar.de/opus4/files/1237/siegert.pdf

Georg Simmel: ‚Die Großstädte und das Geistesleben‘, in; Ders.: Gesamtausgabe Band 7. Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Band I. Frankfurt am Main, 1995. S. 116-131.

Michel Foucault: ‚Andere Räume‘, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig, 1992. S. 34-46.

Henri Lefebvre: ‚Die Produktion des Raums‘, in; Jörg Dünne / Stephan Günzel (Hg.: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft. Frankfurt am Main, 2006. S. 330-342.

Markus Bossert: ‚Spazieren als Wissenschaft‘, in; Ueli Mäder u.a. (Hg.): Raum und Macht. Die Stadt zwischen Vision und Wirklichkeit. Regensburg, 2014. S. 139-154.

Paul Virilio: ‚Fahrzeug‘, in; Ders.: Fahren, fahren fahren… . Berlin, 1978. S. 19-50.

Gilles Deleuze / Félix Guattari: ‚1440 – Das Glatte und das Gekerbte‘, in; Dies.: Tausend Plateaus, Frankfurt, 1992. S. 658-694.

Gaston Bachelard: Poetik des Raumes. Frankfurt am Main, 2007.

Heike Delitz: Architektursoziologie. Bielefeld, 2009.

Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München, 2001.

Foto: Eva-Maria Hugo